'Verbindung ist Arbeit'

Im Interview erklärt der Theologe Michael Weinrich, wie Ökumene in der postmodernen Gesellschaft funktionieren kann


"Pluralismus ist an sich nicht verkehrt. Einer Gesellschaft, die pluralistisch organisiert ist, kann allerdings auch alles egal sein, weil man sich nur um sich selbst kümmert" © privat

"Vielfalt muss positiv aufeinander bezogen sein": Michael Weinrich plädiert für mehr Entschiedenheit der Kirchen. Warum Toleranz alleine zur "Beziehungsarbeit" nicht genügt erklärt er im Gespräch mit reformiert-info.de:

reformiert-info.de: Das Motto der diesjährigen Hauptversammlung des Reformierten Bundes lautet „Was uns verbindet“. Von welchem „wir“ sprechen wir da?

Michael Weinrich: Genau diese Frage habe ich mir auch als Erstes gestellt. Jedes „Wir“, auch wenn es sich noch so begrenzt verstehen mag, ist immer sogleich eingebunden in ein größeres „Wir“ und dann eben in die ganze Gesellschaft. Es stellt sich auf allen Ebenen die Frage, worauf sich unser Zusammenhalt überhaupt verlässlich gründen kann. In einer christlichen Gemeinde könnte man einfach sagen: Wir sind verbunden durch unser Glaubensbekenntnis. Aber genügt das wirklich? Oder geht es im christlichen Glauben nicht immer auch um einen weiter gesteckten Horizont?

Nämlich? Wie weit ist der Begriff „wir“ aus Position der Reformierten Kirche dehnbar?

Natürlich denke ich auch an die Gemeinschaft der Reformierten Kirche. Aber dieses „Wir“ der Reformierten steht niemals einfach für sich. Man könnte nach Gemeinsamkeiten mit anderen christlichen Konfessionen aber eben auch mit anderen Religionen fragen. Oder auch nach einem „Wir“, das sich auf Europa bezieht. Damit kann der Begriff sogleich eine politische Dimension bekommen: „Wir“ leben in einem demokratischen Rechtsstaat und beziehen uns auf Werte aus unserer europäischen Tradition. So ist es immer wieder zu hören. Und da ist ja durchaus etwas dran. Auch wenn es sich hier um keine wirklich eindeutigen Orientierungen handelt, wie allseits zu erkennen ist. Es wird darauf ankommen, dass sich jeder auch als ein Teil dieses „Wir“ verstehen kann. Genau hier aber liegt die große Schwierigkeit.

 Inwiefern?

Es gibt keine eindeutige Deutung und auch keinen gemeinsamen Zugang zu diesen ja sehr unterschiedlich verstehbaren Werten. Die Pluralität als solche ist nicht grundsätzlich anrüchig. Aber sie ist nicht aufeinander bezogen, sondern dümpelt gleichsam unverbunden nebeneinander her. Das ist ja auch unter den Kirchen nicht grundsätzlich anders. Die Ökumene gilt insbesondere in den reformierten Kirchen als ein großes Ziel. Tatsächlich geht man aber nur sehr zögerlich aufeinander zu. Ich glaube, die Kirche müsste sich überzeugender präsentieren, wenn sie für die Gesellschaft ein Vorbild sein möchte. Es hat noch immer vor allem den Anschein als seien wir es, die uns miteinander verbinden sollen. Anstatt dass wir auf Jesus Christus verweisen, in dem wir tatsächlich miteinander verbunden sind. Von daher sollte die Einheit der Kirche selbstverständlich sein.

Wie ließe sich diese Solidarität in der Ökumene aus Ihrer Sicht erreichen?

Die Kirchen müssten entschiedener von ihrer Sendung her denken und sich von daher auch entschiedener gemeinsamen Herausforderungen stellen, was dann auch in aller Öffentlichkeit erkennbar gemacht werden sollte. Nur mit entschiedener Bindung an ihren Auftrag und in optimaler Partizipation an den jeweils zu bestehenden Herausforderungen lernt die Kirche mit einer Stimme zu sprechen. Gewiss spiegelt sich in der Kirche die Vielfalt des Glaubens wider, was völlig in Ordnung ist. Aber es muss erkennbar bleiben, dass diese Vielfalt eine gemeinsame Konzentration hat, von der sie zusammengehalten wird.

Widerspricht diese Einheit nicht dem Pluralismus der heutigen Gesellschaft?

Pluralismus ist an sich nicht verkehrt. Einer Gesellschaft, die pluralistisch organisiert ist, kann allerdings auch alles egal sein, weil man sich nur um sich selbst kümmert und alles andere im Grunde gleichgültig ist. Selbst Toleranz kann überaus unzulänglich werden: nämlich dann, wenn sie nur als Duldung verstanden wird und einfach alles hinnimmt und schmerzunempfindlich keine Grenzen mehr markiert. Natürlich ist das mit den Grenzen immer sehr schwierig. Aber es geht um eine Kultur gegenseitiger Achtsamkeit. Diese wird sich schwer tun mit intoleranten oder gar hasserfüllten Einstellungen oder gar Verhaltensweisen.


Zur Person:

Michael Weinrich arbeitete ab 2005 als Professor für Systematische Theologie an der Ruhr-Universität Bochum und Direktor des Ökumenischen Instituts der Evangelisch-Theologischen Fakultät. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Johannes Calvin, Karl Barth, der Religionsdiskurs sowie reformatorische Ekklesiologie und Ökumene. Seit seiner Emeritierung ist Weinrich u.a. berufenes Moderamens-Mitglied des Reformierten Bundes. Zur Hauptversammlung 2017 sprach er als Hauptreferent über das Thema „Vereint(t) zur Gemeinschaft? Anregungen zu einer theologischen Soziologie der Kirche(n)“.
 

Geht das nicht auf Kosten der Vielstimmigkeit innerhalb der Reformierten Kirche?

Es wird nie das Ziel sein, einen homogenen Körper Kirche zu schaffen. Innerhalb der Reformierten Kirche gibt es bereits ein sehr großes Spektrum unterschiedlicher Stimmen: von streng evangelikalen bis hin zu sehr liberalen. Das ist auch als Bereicherung zu sehen: Lebendigkeit ist von Vielfalt abhängig. Am Ende aber muss es eine gemeinsame Perspektive geben. Die Vielfalt muss positiv aufeinander bezogen sein. Und das ist eben dann besonders schwierig, wenn die Pluralität von keinen Gemeinsamkeiten mehr geprägt ist.

Wie lässt sich dieser positive Bezug herstellen?

Verbindung ist nur möglich mit einer entschlossenen Offenheit. Auch Dietrich Bonhoeffer stellte sich die Frage: Wer ist Christus für uns heute? Wir reden von Christus nicht als einer vergangenen Figur. Durch die Auferstehung ist er eine lebendige Wirklichkeit, von der das Leben der Kirche getragen sein sollte. Wenn sich die Kirche darum sammelt zu verstehen, was uns heute gesagt wird, dann wird es eine aufmerksame Kirche sein. Und keine introvertierte Kirche, die nur auf eigene Mitgliedschaft aus ist.

Das klingt so, als wäre Verbundenheit nur mit Anstrengung möglich. Gibt es keine natürliche Verbundenheit?

Der Mensch ist an erster Stelle auf Selbstdurchsetzung aus – das steckt in seiner Natur oder ist uns möglicherweise auch nur anerzogen worden. Die Verbundenheit mit anderen ist keine sich von selbst einstellende Selbstverständlichkeit. Sie gilt es ausdrücklich auf dem Schirm zu halten, und dazu muss auch etwas getan werden. Bei persönlichen Beziehungen spricht man deshalb gerne von „Beziehungsarbeit“. Auf gesellschaftlicher Ebene ist das nicht anders: Auch dort funktionieren Beziehungen nur, wenn sie auch gepflegt werden. Verbindung ist Arbeit. Auch wenn theologisch betrachtet das allerdings nicht das erste und entscheidende Wort zum Thema sein kann, werden wir um diese Arbeit nicht herumkommen. Dazu dann etwas mehr auf der Hauptversammlung in Moers.


Das Interview führte Isabel Metzger
Die Welt, unsere Angst und der Gott des Friedens – Ein Zwischenruf des Moderamens wird in Moers begrüßt

Am letzten Tag der Hauptversammlung hat der Reformierte Bund eine Erklärung besprochen, die an die Friedenserklärung von 1982 anschließt und auf die aktuellen Problemlagen zielt.
Systematische Anregungen zu einer theologischen Soziologie der Kirche(n)

Hauptvortrag zur Hauptversammlung des Reformierten Bundes 2017 in Moers am Niederrhein. Weinrich reflektiert in seinem Vortrag zum Motto der Hauptversammlung "Was uns verbindet" aus theologischer Sicht.